Am Beispiel "Zehn kleine Negerlein"

Die Geschichte eines umstrittenen Kinderbuches
Teil 2

Etwas mehr als zehn Jahre nachdem 1868 Ten little Niggers in Amerika als Spottlied auf Indianer und Schwarze entstanden war, finden wir den Song bereits in England als Auszähllied in Sammlungen von Kinderreimen. Im deutschen Sprachraum tauchten die Negerlein - soweit mir bekannt - erstmals 1885 in dem Buch Aus Kamerun auf.
Bemerkenswert an diesem Buch ist, dass es bereits alle Elemente der späteren deutschsprachigen Versionen vorgibt. Anders als andere frühe Ausgaben lehnt es sich nicht eng an die englische Vorbilder an, sondern Bild und Text werden recht eigenständig gestaltet. So geht etwa ein Negerlein verloren, weil es nach dem übermäßigen Genuss von bayrischem Bier platzt.
Die Zeichnungen stammen von dem renomierten Maler Christian Wilhelm Allers (1857 - 1915)

Aus Kamerun ist nicht nur die wahrscheinlich älteste deutschsprachige Version der 'Zehn kleinen Negerlein', sondern nach meiner Meinung auch eine der am originellsten gezeichneten.
Zwischen 1910 und 1920 (die Angaben schwanken) erschien im Verlag Spear & Söhne, Nürnberg das Buch Zehn kleine Negerlein (Abbildung rechts), das in Text und Bild bereits deutlich auf englischsprachige Versionen zurückgreift.

Für das Ende der Geschichte von den zehn kleinen Negerlein gibt es zwei Versionen: In der älteren Version überlebt das letzte Negerlein, nimmt eine Frau und bekommt Kinder, wodurch das Lied als Kettengesang von Anfang an wiederholt werden kann ( Beispielsweise: 'Ein kleines Negerlein, das sah ein Mädchen stehn, das nahm er sich zu seiner Frau, da wurden's wieder zehn').
In der jüngeren Version, die wahrscheinlich schon in den 20er Jahren des 20. Jhdts bekannt war, kommt auch das letzte Negerlein zu Tode und die Geschichte endet damit ( beispielsweise mit der Verszeile: '..da warn sie alle weg', '...da warn sie alle futsch', '...da gab es keines mehr', usw.).

Die 12 Negerlein
Diese gleichfalls sehr frühe deutschsprachige Version der 'Zehn kleinen Negerlein' stammt von dem Wiener Künstler Fritz Gareis, d. J. (1872 - 1925).
Das Buch erschien 1910 bei Ferd.Carl Loewes Verlag Stuttgart und zeichnet sich durch seine originelle Umsetzung der Vorlage und die hervorragenden Illustrationen aus.

Es gibt noch eine andere Ausgabe der 12 kleinen Negerlein von Gareis, die vermutlich gleichfalls um 1910 bei Ferd.Carl Loewes Verlag Stuttgart erschienen ist. Es handelt sich ein Faltbilderbuch.

Nun war es gewiss nicht so, dass die Geschichte von den 'zehn kleinen Negerlein' Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland einfach und ohne besondere als rassistisch zu beurteilende Motivation als Kinderlied übernommen wurde. Denn in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts trat Deutschland in den Kreis der Kolonialmächte ein und erwarb überseeische Gebiete, hauptsächlich in Afrika mit allen damit verbundenen Problemen mit der dort ansässigen Bevölkerung. Kamerun, auf welches das Buch Aus Kamerun Bezug nimmt war von 1884 – 1919 deutsche Kolonie und konnte hauptsächlich im Landesinneren nur schrittweise unter die Kontrolle der deutschen Kolonialherrn gebracht werden. Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung und Aufstände, denen mit militärischen Mitteln begegnet wurde, waren keine Seltenheit. Ähnlich war die Situation auch in den anderen afrikanischen Kolonien Deutschlands.
Man hatte damals in Deutschland also einen unmittelbaren und zeitaktuellen Zugang zu dem Thema "Neger", der sich nicht wesentlich von jenem der anderen Kolonialmächte unterschied. Die beiden oben gezeigten Bilder aus dem Buch Aus Kamerun spiegeln die Einstellung Schwarzafrikanern gegenüber recht deutlich wieder. Der Text zu dem Bild links lautet: Acht kleine Negerlein, / Die gingen und stahlen Rüben; / Den einen schlug der (sehr 'deutsch' gezeichnete) Bauer todt- / Da blieben nur noch sieben.
Rechts : Ein kleiner Negerknabe / Nahm sich 'ne Mama / Zehn kleine Negerknaben / Sind bald wieder da.
Das überlebende letzte Negerlein erweist sich als 'zivilisierbar', heiratet offenbar kirchlich, gründet eine Familie und lebt in einer bürgerlichen Wohnung - Bismarck blickt von der Wand.

Oben: Aus dem Gartenlaube-Bilderbuch, das 1903 (?) erstmals erschienen ist und bis 1922 (?) mehrere inhaltlich gleiche und sich nur im Titelbild unterscheidende Auflagen erlebte: Die zehn Negerbuben von Arpad Schmidhammer
Bereits in frühen deutschsprachigen Versionen findet sich die Textzeile von den kleinen Negerlein, die nichts von Dieben wussten und die von der englischen Originalversion "Five Little Nigger Boys going in for Law; One got in Chancery, and then there were Four", abweicht. Auch darin scheinen sich die Erfahrungen der deutschen Kolonialherrn mit der afrikanischen Bevölkerung, die einen anderen Eigentumsbegriff hatte, insbesondere was Grund und Boden anlangt, widerzuspiegeln.

Hatten die ersten Publikationen der 'zehn kleinen Negerlein' auch in Deutschland also noch durchaus einen rassistischen Hintergrund, ging diese Sicht nach dem Verlust der Kolonien schon in der Zwischenkriegszeit und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend verloren und die Geschichte wurde unreflektiert einfach als 'altes' Kinderlied verstanden. Erst eine zunehmende Sensibilisierung zu dem Thema 'Schwarzafrikaner und Rassismus' in den letzten Jahren hat zu einer Neubewertung geführt.

Abbildungen oben: 1920 erschien die Ausgabe des Verlages von O. u. M. Hausser, die von dem anerkannten Jugendstilkünstler Richard Ernst Kepler, Maler und Illustrator, geb. 27. März 1851 in Stuttgart, gestaltet wurde (Bild links). Bereits hier ist von 'alten Reimen' die Rede.
Bild rechts, eine Ausgabe des Pestalozzi- Verlages, erstmals aus 1926 (?). Diese Ausgabe wird in jüngerer Zeit auch als die mit dem 'Äffchen' bezeichnet, weil auf dem vorletzten Register kein ´Negerkind sondern ein Äffchen abgebildet ist, was als besonders diskriminierend interpretiert wird. Diese Version, von der es mehrere Ausgaben bis Anfang der 50er gibt, verwendet englisches Bildmaterial.

Die Abbildungen oben stammen aus Die Geschichte von den 10 kleinen Negerbuben in heiteren Reimen und vielen bunten Bildern von Adolf Uzarski, Mainz, Jos. Scholz 1925 Scholz' Künstler-Bilderbücher, No 196: "Klipp-Klapp"-Kettenbücher in Leporelloform.
Adolf Uzarski (* 14. April 1885 † 14. Juli 1970) war ein deutscher Schriftsteller, Maler und Graphiker, der in der Zwischenkriegszeit gegen antidemokratische, antisemitische und militaristische Tendenzen agitierte und von den Nationalsozialististen daher mit Berufsverbot belegt wurde.
Auch dieses Beispiel belegt, dass die Geschichte von den zehn kleinen Negerlein im deutschen Sprachraum in der Zwischkriegszeit und bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts primär als kinderliterarisches Thema verstanden und ohne darüberhinausgehende Intentionen, insbesondere solche rassistischer Art gesehen wurde.
Uzarski schrieb zu den 10 kleinen Negerbuben eine Fortsetzung: Die 10 kleinen Negerbuben in Afrika in heiteren Reimen und vielen bunten Bildern, Mainz, Jos. Scholz 1925 Scholz' Künstler-Bilderbuch No 197

Ebenfalls aus dem Jahre 1925 stammen Die zehn kleinen Negerlein von Heinrich Hussmann, erschienen bei Schlüter & Ulbrich.

Oben: Zehn kleine Negerbuben, Illustrationen von Beatrice Braun-Fock, erschienen 1935 im Verlag Josef Scholz, Mainz.
Unten: Vmtl. auch aus den 30er Jahren eine von Maria Braun gezeichnete Version der Zehn kleinen Negerlein.

Der Ausschnitt oben stammt aus der weitverbreiteten Werbekinderzeitung Die Rama-Post vom lustigen Fips, 3. Jg. Nr. 16 (1927/28) und belegt einmal mehr durch das Beifügen 'Volkslied', dass schon damals die Kenntnis vom Ursprung der Geschichte von den Zehn kleinen Negerlein weitgehend verlorengegangen war. Man betrachtete es als festen Bestandteil der deutschen Kinderliteratur und fast jeder bekannte Zeichner hat dazu seine Version abgeliefert.
Die Abbildung links stammt aus Fritz Baumgartens Zehn kleine Negerbuben, Verlag Engelbert Dessert, Mainz. Erschienen ist das Buch wahrscheinlich schon in den 30ern (Zehn kleine Negerknaben), hat aber zahlreiche Neuauflagen, bis in die 80er erlebt.

In Amerika und England wurden vor allem in älteren Versionen die 'Negerlein' teilweise als junge Männer dargestellt. Das entsprach der Entstehungsgeschichte des Liedes, in der es ja nicht darum ging, das Umkommen von Kindern zu beschreiben, sondern die schwarze Bevölkerung zu verspotten. Im Deutschen wurden die 'Negerlein' entsprechend dem Verständnis, dass es sich dabei (nur) um einen Kinderreim handle, als Kinder und das ihnen zugestoßene Ungemach als Folge unvorsichtigen Verhaltens, vor dem kleine Kinder gewarnt werden sollten, dargestellt.
Lediglich in der ersten deutschsprachigen Version Aus Kamerun (siehe oben) wirken die 'Negerlein' (noch) wie Jugendliche.

Nach dem zweiten Weltkrieg sind bilderbuchartige Ausgaben von Zehn kleine Negerlein bis in die 70er recht häufig zu finden. Teilweise wurde das Buch sogar als Lernbehelf beworben, um kleinen Kindern das Zählen beizubringen.
1946 erschien eine neue Version der Zehn kleine Negerlein von Uzarski, Düsseldorf, Merkur, "Die schönen Bilderbücher des Merkur-Verlages" (Abbildungen unten):"Zehn kleine Negerlein fuhren auf dem Rhein / Eines fiel ins Wasser rein, da warens nur noch neun"

Es entstanden jetzt vermehrt Variationen, in denen die kleinen Negerlein durch Häschen, Hunde, Katzen usw. ersetzt wurden.
Links unten eine noch traditionelle Ausgabe, die wahrscheinlich aus den 50ern (oder früher) stammt, rechts unten eine Ausgabe wahrscheinlich aus den 50er Jahren. Die Negerlein wurden durch Kätzchen ersetzt und auch der Text etwas gemildert: Es sind nur mehr drei Todesfälle zu verzeichnen.

Neben traditionellen Ausgaben ist bereits ab Mitte der 50er Jahre die Tendenz zu erkennen, die Geschichte von den Negerlein und deren zeichnerische Darstellung unter Beibehaltung des Zählreimes freundlicher zu gestalten.
Die Abbildungen oben stammen aus der bekannten, von Hedda Obermaier-Wenz illustrierten Version. Der Vers 'Acht kleine Negerlein, / Die wussten nichts von Dieben' wurde in Umkehrung der Geschichte mit den Zeilen fortgesetzt: ' Der Fuchs stahl eines weg, / Da warens nur noch sieben.' Am Ende sind die Negerlein wieder glücklich vereint, kein einziges ist zu Schaden gekommen.
Die Illustrationen unten sind aus der von Ferra - Mikura getexteten und von Felicitas Kuhn illustrierten Ausgabe (1957). Die Geschichte hat nur mehr wenig Ähnlichkeit mit dem Original. Am Ende findet das letzte Negerlein neun weiße Freunde.

Die ursprüngliche Geschichte von den zehn kleinen Negerlein ist auch in der Tradition jener Kinderbücher zu sehen, welche der sogenannten 'schwarzen Pädagogik' zugeordnet werden. Kindliches Fehlverhalten wird mit drastischen Folgen bestraft (vgl. 'Der Struwwelpeter' ua.). Auch die Negerlein zeigen in der Kinderbuchversion ein Verhalten, von dem Kinder abgehalten werden sollen: Klettern auf eine Scheune, Hantieren mit einem Gewehr, Necken einer 'Hex', Stehlen, in die Sümpfe gehen, sich überfressen, Bier saufen, zu lange in der Sonne bleiben, usw.
So gesehen hatte die Geschichte auch im früheren pädagischen Verständnis durchaus ihren Wert, wobei unter diesem Gesichtspunkt rassistische Aspekte (die verächtliche Darstellung ungeschickter Neger, die durch eigenen Unverstand zu Schaden kommen) in den Hintergrund traten, weil sich die Moral von der Geschicht' durchaus und generell auch an weiße Kinder richtete.
Unter sich ändernden pädagogischen Vorstellungen begann man man aber von diesen recht grausamen Varianten abzugehen.
Die Abbildungen unten stammen aus der von Walter Trier gezeichneten Version aus der Mitte der 50er Jahre. Hier werden die Negerlein immer mehr anstatt weniger.
Die karrikierende Darstellung der Negerlein muss nach heutigem Verständnis allerdings problematisch, wenn nicht gar rassistisch erscheinen, obwohl Trier über einen solchen Verdacht gewiss erhaben ist.

Erst in den 60er und 70er Jahren begann man (auch) auf dem Gebiet des Kinderbuches deren sozialhistorischen Hintergrund näher zu betrachten und kritisch zu beurteilen. Anders als bei Hatschi Bratschis Luftballon, wo die nationalsozialistische Verstrickung seines Autors (Franz Karl Ginzkey) schon früh einen vordergründigen Ansatzpunkt für eine ablehnende Beurteilung bot, hatte man bei den zehn kleinen Negerlein offenbar lange keine Überlegungen in Richtung Rassismus angestellt. Nun aber begann man zunehmend Versionen zu veröffentlichen, die nicht nur das ständige Umkommen der Negerlein vermieden, sondern sich auch bemühten, dem Vorwurf rassistisch zu sein, keine Angriffsfläche zu bieten.

Oben links: Die geglättete Version von James Krüss (Autor) und Horst Lemke (Zeichnungen) aus den 60er Jahren. 'Eine Musikalische Reise durch die Welt und das Einmaleins'.

Oben rechts: Neuausgabe des Pestalozzi- Verlages 1996. Man ist sehr um Politische Korrektheit bemüht: 'Zehn Kinder, diesmal mit dunkler Hautfarbe lassen sich immer neue Spiele einfallen. Auf jeder Doppelseite erlebt eins etwas Besonderes und bleibt zurück. Die Verse - auf die bekannte Melodie zu singen - kann bald jedes Kind auswendig.' Die Zeichnungen stammen von Felicitas Kuhn

Wie sehr die Geschichte von den zehn kleinen Negerlein bekannt und im Bewußtsein der Menschen verankert ist, zeigt sich darin, dass - ähnlich wie es etwa auch beim Struwwelpeter der Fall ist - zahlreiche, teilweise politisch motivierte Variationen entstanden, wie zB. diese Version, angeblich aus 1939: '10 kleine Meckerlein, die saßen einst beim Wein, Der eine machte Goebbels nach - da warens nur noch neun!'
Der Erfolg des Buches ist wohl darauf zurückzuführen, dass die eingängigen Reime gut zu singen sind und mit ihrer Wiederholung 'und dann waren's nur mehr..' und dem einfachen Zahlenspiel der kindlichen Neigung zu Ritualen entgegenkommen: Der ideale Zählreim für kleinere Kinder eben.

Dennoch war es natürlich nur eine Frage der Zeit bis Zehn kleine Negerlein unter dem Gesichtspunkt der Political Correctness intensiver hinterfragt wurde.
Es genügte nicht mehr, dass nette Geschichten erzählt wurden, die mit der ursprünglichen grausamen Version nichts mehr gemeinsam hatten. Es genügte auch nicht, dass die Negerlein jetzt geradezu kitschig-lieblich gezeichnet wurden. Grund zur Aufregung bot allein schon die Tatsache, dass überhaupt von Negerlein die Rede war. Auslöser für diese Diskussion war aber nicht so sehr das Kinderbuch selbst, sondern ein Kriminalroman.

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