Die Entwicklung des Schulwesens in Österreich von 1919 bis 1945
Am 12. 11. 1918 wurde die Republik "Deutschösterreich" durch die Provisorische Nationalversammlung, zu der sich alle deutschsprachigen Abgeordneten des noch 1911 gewählten Reichsrats zusammengeschlossen hatten, ausgerufen. Nach der Loslösung der nicht deutschsprachigen Gebiete der zerfallenen Donaumonarchie betrug die Fläche des Reststaates etwa 12 % seiner ursprünglichen Größe.
Bis 1920 wurde das Land von einer Koalition zwischen Sozialisten und Christlichsozialen regiert. Mitte 1920 wurde diese Koalition von den Christlichsozialen aufgekündigt und die Sozialisten gingen in Opposition.
4. 3. 1933 traten alle 3 Präsidenten des Nationalrats aus abstimmungstechnischen Gründen zurück, worauf die christlichsoziale Regierung Dollfuß den Nationalrat für aufgelöst erklärte und gestützt auf ein Ermächtigungsgesetz aus dem ersten Weltkrieg autoritär regierte. Bürgerkriegsähnliche Aufstände des sozialistischen Schutzbundes wurden 1934 mit Waffengewalt niedergeschlagen.
Die Staatsform bis zum Anschluß an Deutschland 1938 wird als Ständestaat (Austrofaschismus) bezeichnet.
Bis zur Aussschaltung des Parlamentes 1933 wurde die Entwicklung des Schulsystems entscheidend von dem
sozialdemokratischen Politiker Otto Glöckel geprägt. Während der Dauer der Koalition war er Unterstaatssekretär für Unterricht, von 1922 bis 1934 Geschäftsführender 2. Präsident des Wiener Stadtschulrats. Glöckel trat für die Einheitsschule aller Kinder bis 14 Jahre ein. Auch wenn dieses Ziel nicht durchgesetzt werden konnte, erreichte er doch 1927 die Umgestaltung der bisher dreiklassigen Bürgerschule in eine allgemeine vierklassige Hauptschule, von der bei entsprechender Leistung der Übertritt in ein Gymnasium möglich war.
Bereits ab 1919 wurden Mädchen in öffentliche Knabenmittelschulen aufgenommen und hatten damit die Möglichkeit, ohne hohes Schulgeld zu zahlen, die Hochschulreife zu erlangen.
Ebenfalls 1919 stellte Glöckel, der sich bemühte, den Einfluss der Kirche im Schulwesen zurückzudrängen, in einem Erlass fest, dass religiöse Übungen nicht als Zweck der Schule anzusehen seien. Dieser Erlass stieß auf erbitterte Kritik der Kirche und der Christlichsozialen und wurde nach dem christlichsozialen Staatsstreich von 1933 sofort aufgehoben.
Nach dem Ausscheiden der Sozialisten aus der Regierungskoalition 1920 ist ein Dualismus in der Entwicklung des österreichischen Schulwesens festzustellen. Auf Bundesebene bzw. in den Ländern wurden hergebrachte Strukturen konserviert. In Wien, wo eine überwältigende sozialistische Mehrheit bestand ('Das rote Wien'), wurden richtungsweisende Reformen und Projekte in Angriff genommen. Schulen, Kindergärten und riesige städtische Wohnhausanlagen für Arbeiterfamilien wurden errichtet.
Glöckel strebte eine innere Reform der Schulen an, die durch die Neuformulierung von Lehrplänen und die Herausgabe kindgemäßer Lehrbücher (mit Hilfe des von der Stadt Wien gegründeten Verlages Jugend und Volk ), verwirklicht werden sollte. Erklärtes Ziel war es, demokratischer Verhaltensmuster in den "Schulgemeinden" einzuüben.
In den 20er Jahren wurde das berüchtigte Lehrerinnenzölibat eingeführt. Lehrerinnen, die heirateten, mußten aus dem Schuldienst ausscheiden, weil man davon ausging, dass sie durch die Eheschließung ohnehin versorgt seien. Das Klischee von der Lehrerin als "Fräulein" geht darauf zurück und begegnet uns in zahlreichen Filmen der Zwischenkriegszeit.
Ab 1927 müssen für Mädchen an Knabenmittelschulen Parallelklassen eingerichtet werden.

Die inzwischen durch ein moderneres Gebäude ersetzte Schule am Enkplatz in Wien 11
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Die Frage der Koedukation
(das ist der gemeinsame Unterricht von Knaben und Mädchen) bestand seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht und gewann Bedeutung mit der schrittweisen Angleichung der Bildungsmöglichkeiten für Mädchen an jene für Knaben.
Links eines jener typischen symetrischen Schulgebäude, das zwei getrennte Trakte und demgemäß zwei Eingänge für Knaben und Mädchen aufwies.
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Eine strikte Trennung der Geschlechter beim Unterricht wurde von Anfang an nur in den konfessionellen Schulen durchgeführt, ansonst fehlten vielfach die Möglichkeiten dazu. In den achtklassigen Volksschulen, vor allem auf dem Land, wurden Buben und Mädchen grundsätzlich gemeinsam unterrichtet. Man begnügte sich damit, so wie es auch in den Kirchen üblich war, sie nach Bankreihen zu trennen.
Mit der Einführung von Bürgerschulen und ihren unterschiedlichen Lehrplänen für Buben und Mädchen wuchs die Notwendigkeit eines getrennten Unterrichtes. Otto Glöckel setzte sich im Wien der 20er Jahre für koedukative Schulmodelle ein. Mit dem Erstarken der Christlichsozialen wurde in Österreich vermehrt auf Geschlechtertrennung beim Unterricht gesetzt. Dieser Tendenz verstärkte sich nach dem Anschluß 1938, indem der Nationalsozialismus eine strikte Trennung der Geschlechter durchsetzte. In dieser Zeit bedurfte die Zulassung von Mädchen an Gymnasien der ministeriellen Genehmigung.
Nach 1945 bestanden in Österreich Schulen mit Geschlechtertrennung und solche mit koedukativem Unterricht nebeneinander, bis 1975 die Koedukation gesetzlich verankert wurde.
Hatte man zunächst die Koedukation primär als Mittel verstanden, um die Chancengleichheit der Frauen in Bildung und Beruf zu fördern, ein Ziel, das zumindest in der Bildungspolitik erreicht erscheint, mehren sich in jüngster Zeit Stimmen, die in einem geschlechterspezifischen Unterricht durchaus Vorteile sehen, zumal Mädchen oft bessere Schulleistungen erbringen als Buben.
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Ab 1933 regierten in Österreich die Christlichsozialen autoritär. Das hatte auch Auswirkungen auf die Schulpolitik.
der sogenannte Glöckelerlass, wonach religiöse Übungen nicht als Zweck der Schule anzusehen seien, wurde aufgehoben.
Ebenfalls noch 1933 wurde ein Konkordat abgeschlossen, welches der katholische Kirche im Sinn des "christlichen Ständestaats" erneut wesentlichen Einfluss vor allem auf Schule und Eherecht einräumte.
Die Bildungsmöglichkeiten der Mädchen wurden drastisch eingeschränkt und die Bildungsunterschiede zwischen den Geschlechtern wieder verstärkt. Mädchen wurden kaum noch an Knabenmittelschulen aufgenommen sondern auf sogenannte Frauenoberschulen verwiesen.
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2
Die Zwischenkriegszeit
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Die erste Repuplik war von starken sozialen Spannungen, Massenarbeitslosigkeit in den 30er Jahren und dem Gegensatz zwischen Sozialisten und Christlichsozialen, die einander unversöhnlich gegenüberstanden, gekennzeichnet. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (Christlichsoziale) löste 1933 nach dem Rücktritt aller drei Nationalratpräsidenten den Nationalrat auf und regierte ab nun autoritär. Bürgerkriegsähnliche Aufstände der Sozialisten 1934 wurden mit Hilfe von Militär und Polizei niedergeschlagen. Der neue Staat, der proklamiert wurde und bis zum Anschluss an Deutschland 1938 bestand, wird als Ständestaat (Diktatur des Ständestaates oder Austrofaschismus) bezeichnet. Dem Regime standen sowohl Sozialisten als auch Nationalsozialisten feindlich gegenüber, so dass es von Anfang an eine schmale Basis hatte und letztlich dem von Deutschland einseitig vorgenommenen Anschluss nichts Entscheidendes entgegensetzen konnte.
Der Ständestaat verordnete angesichts der Bedrohung durch den Nationalsozialismus und des von vielen bereits offen geforderten Anschluss an Deutschland in den Lehrplänen der Schulen eine verstärkte Betonung der christlichen Wurzeln und die Stärkung der Liebe zum Österreichischen Volk und Vaterland.
In dem Lesebuch für die Volksschule Was kleine Leut' in Wien erfreut (oben) findet man etwa Kinder mit einer rot-weiss-roten Fahne, die das Kruckenkreuz (das Symbol des Ständestaates) trägt, abgebildet. Das dazu gehörende Gebet lautet: "Himmelvater, auf zu dir / heben wir die Hände: / Schütze unser Vaterland, / mach der Not ein Ende! / Unsern Führern aber gib, Vater, deinen Segen, / daß sie führen unser Volk / hin zu deinen Wegen!"
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Bei uns in Wien, ein Lesebuch für die ersten Klassen der Volksschulen des Reichsgaues Wien in zwei Bänden, Winterbuch und Sommerbuch; 1942/1943.
Abgesehen davon, dass diese Bücher durch das Regime, unter dem sie entstanden sind, diskreditiert sind, gehören sie zu den schönsten Lesefibeln mit Wienbezug.
Oben Mitte: Eine Seite aus dem Winterbuch, im Hintergrund die Wiener Sternwarte 'Urania'
Links: Die Realität drei Jahre später. Die durch Kriegseinwirkung zerstörte 'Urania' 1945.
Schulbücher aus der Zeit des Ständestaates (1934 - 1938) und der Zeit des Anschlusses (1938 - 1945) sind relativ selten, weil sie durch die jeweils nachfolgenden Regierungen ausgesondert wurden.
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1942 Rechenbuch für Volksschulen, Ostmark, 1. Schuljahr; Deutscher Verlag für Jugend und Volk, Wien.
Die Zeichnungen stammen von Ernst Kutzer.
Eine überarbeitete und von NS- Bezügen und Kriegsthemen gesäuberte Fassung stand noch in den späten 50er Jahren unter dem Titel 'Erstes Rechenbuch' in Gebrauch.
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