Ausgehend von der Annahme, dass mediale Einflüsse im besonderen Maße auf die Phantasie und Vorstellungswelt Heranwachsender wirken und entscheidend deren moralische und soziale Entwicklung und damit auch das Sozialverhalten beeinflussen können, werden Mediangebote für Heranwachsende unter pädagogischen Gesichtspunkten in drei Gruppen eingeteilt:
Wertvolle Medienangebote: Das sind solche, die in fiktiver Form sozial erwünschte Verhaltensformen beispielhaft näherbringen, den Leser zu einer Befassung mit der aufgezeigten Problemstellung in eine vorgegebene Richtung veranlassen und letztlich sein eigenes soziales Verhalten unter Zugrundlegung der suggerierten Wert und Moralvorstellungen modifizieren. Es handelt sich also um eine propagandistische Beeinflussung, was nicht unbedingt negativ verstanden werden braucht. Man muss sich aber vergegenwärtigen, dass das, was als wertvoll eingestuft wird, von aktuellen, oft auch von der Obrigkeit vorgegebenen Moral- und Wertvorstellungen abhängt.
Wertlose (triviale) Medienangebote: Diese sind zwar nicht ausgesprochen 'jugendgefährdend' und damit schädlich, befriedigen aber nur das Unterhaltungsbedürfnis ohne darüberhinausgehenden pädagogischen Anspruch und sind in ihrer Beispielssetzung zu indifferent oder realitätsfern um Lösungsansätze für Probleme zu bieten, die in der sozialen Wirklichkeit auftreten. Sie werden in dem Maße als nachteilig eingestuft, in dem einer propagandistischen Einflussnahme im weitesten Sinn Priorität eingeräumt wird. In der modernen, marktorientierten Mediengesellschaft haben solche Medienangebote einen hohen Stellenwert, lassen sich nicht unterdrücken und werden daher toleriert.
Schädliche Medienangebote: Sie sind das Gegenteil der wertvollen, weil sie durch schlechte Vorbilder zu einem sozial unerwünschten Verhalten verleiten können. Das Maß ihrer Gefährdungseignung rechtfertig entsprechende zensorische Maßnahmen.
Mit der sogenannten 'Nachahmungstheorie' wird und wurde die Problemstellung am wirksamsten und unwissenschaftlichsten angegangen. Es wird einfach die Behauptung in den Raum gestellt, dass jede etwas ausführlichere Darstellung von Straftaten in Medienwerken - in welchem Zusammenhang auch immer - geeignet sei, Jugendliche zur Nachahmung zu animieren und schlimmstenfalls in die Kriminalität zu treiben. Zur Begründung wird in einschlägigen Judikaten über jugendgefährdende Medienwerke hauptsächlich der 50er und 60er Jahre - soweit man eine Begründung überhaupt für nötig hielt - der (zumindest objektiv unzutreffende) Hinweis auf das beängstigende Ansteigen der Jugendkriminaltät verwendet und, dass die schwere Gefärdungseignung jedem einsichtigen und verständigen Menschen ohne weiters erkennbar sei, oder, dass schon der gesunde Menschenverstand eine solche jugendgefährdende Wirkung erkennen lasse. Damit wurde auch gleich jede kritische Diskussion unterbunden, weil es jeder anders meinende schwarz auf weiss hatte, dass er zumindest zu den uneinsichtigen Dummköpfen zu rechnen sei.
Eines ist aber allen diesen Theorien gemeinsam: Es handelte sich immer um unbewiesene und wie ich meine auch unbeweisbare Theorien.
Denn es ist praktisch nicht möglich, einen schlüssigen, unanfechtbaren Beweis für eine diese Theorien zu führen.
Dennoch wird und wurde derartiges in der einschlägigen Diskussion immer wieder unternommen.
Eine beliebte Methode besteht darin, auf spektakuläre Einzelfälle zurückzugreifen. Wenn etwa ein jugendlicher Straftäter in einer medienpräsenten Verhandlung behauptet, er sei durch einen Fernsehfilm zu seiner strafbaren Handlung verleitet worden, kann man damit rechnen, dass dieser Fall bald in einschlägigen Publikationen auftaucht und zur Beweisführung verwendet wird. Nun kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass eine mediale Einflussnahme im Einzelfall Mitursache für das Täterverhalten war. Die Anzahl der Beispiele, wo das zumindest vom Betroffenen selbst behauptet wird, meist mit Blick auf einen sich daraus vielleicht ergebenden Strafmilderungsgrund ist aber viel zu gering, um eine signifikante Größenordnung zu erreichen. Auch werden diese Behauptungen in der Regel nicht näher hinterfragt, sondern einfach zur Kenntnis genommen. In jenen Fällen in denen Jugendliche spektakuläre Gewaltverbrechen - oft gegen Lehrer und Mitschüler - begehen, lassen sich Vorbilder dafür, die nachgeahmt wurden, viel eher im sozialen Umfeld und in der medialen Berichterstattung über ähnliche real stattgefundene Verbrechen und nicht in fiktiven Geschichten finden.
Es werden auch gelegentlich Laborversuche zur Beweisführung herangezogen. Diese Versuche laufen in den verschiedensten Modifikationen nach dem gleichen Grundmuster ab. Kinder werden medialen Einflüssen (Bildern oder kurzen Szenen) ausgesetz, von denen man annimmt, dass sie aggressionsfördernd wirken. Sodann wird mit verschiedenen Methoden versucht zu messen, ob sich das Aggresssionspotential der Probanden erhöht hat. Wirklich überzeugende Ergebnisse wurden dabei nicht erzielt. Zunächst ist anzumerken, dass den Probanden die 'Aggressiva' hoch dosiert und gezielt verabreicht wurden. Sodann steht man vor dem Problem festzustellen, wie hoch danach das Aggressionspotential im Vergleich zu vorher 'gemessenen' Werten ist. Die Kinder werden dazu meist in eine soziale Konfrontationssituation gebracht und beispielsweise aufgefordert, sich Strafen für andere Gruppenmitglieder auszudenken. Die unter diesen Laborbedingungen erzielten Ergebnisse sind mehrdeutig und lassen keinen Schluss auf Gesetzmäßigkeiten zu, die auch in der sozialen Realität wirksam werden.
Ein weiterer Ansatz besteht darin, Statistiken zur Jugendkriminalität heranzuziehen und mit der Gewaltpräsenz im Fernsehen zu vergleichen. Abgesehen von der Schwierigkeit aus Kriminalstatistiken überhaupt sozial wirksame Mechanismen zu erkennen, worauf ich hier aber nicht näher eingehen möchte, fehlt jeder Nachweis dafür, dass der behauptete Wirkungszusammenhang überhaupt besteht. Es wird vielmehr das, was bewiesen werden soll, als Ausgangspunkt für die Beweisführung selbst genommen.
Man kann allerding behaupten, dass in den letzten 50 Jahren ein ungewollter aber großflächiger Feldversuch stattgefunden hat.
In den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts war das Schild "Jugendverbot" bei Kinos allgegenwärtig. Viele Filme, die heute im Vorabendprogramm des Fernsehens gezeigt werden, waren damals Jugendlichen bis 16 nicht zugänglich, weil dieses 'Jugendverbot' meist auch strikt eingehalten wurde, um behördliche Beanstandungen zu vermeiden. Schundhefte waren verpönt und abgesehen davon meist auch recht harmlos. Das Fernsehen, das in den Anfängen steckte, zeigte hauptsächlich unbedenkliche, 'familientaugliche' Beiträge
Vergleicht man also das, was Jugendlichen vor 50 oder 40 Jahren an medialen Gewaltdarstellungen zugänglich war, mit dem, was heute das Fernsehen einschließlich der auf CDs verkauften Filme bietet, und was in der Realität auch von den meisten Heranwachsenden konsumiert wird, müßte man - wenn der behauptete Wirkungszusammenhang besteht - befürchten, dass das Land in einer Welle seit Jahren zunehmender Jugendkriminalität versinkt. Nichts davon ist eingetreten. Vergleicht man bei allen Vorbehalten gegenüber Kriminalstatistiken die Entwicklung der Jugendkriminalität besonders mit Blick auf Aggressionsdelikte, läßt sich über den Beobachtungszeitraum keine signifikante Zunahme konstatieren; eher das Gegenteil ist der Fall. Man darf sich dabei nämlich nicht von spektakulären Einzelphänomenen täuschen lassen, die sich - geradezu modeabhägig - im kriminellen Aggresionsverhalten Jugendlicher zeigen oder von temporären, meist auch regional begrenzten sozialen Ursachen abhängen.
Ich neige daher dazu, jenen Recht zu geben, die meinen, soziales Verhalten werde primär durch soziales Beispiel im Rahmen gruppendynamischer Prozesse, die für Heranwachsende besonders verhaltensmotivierend sind, erlernt. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Schulunterricht zu, wenn konkrete soziale Problemstellungen angesprochen und erwünschte Lösungsansätze indoktriniert werden. Mediale Einfüsse spielen hingegen eine eher untergeordnete Rolle. Dennoch wird ihnen auch in aktuellen Unterrichtsmodellen eine wesentliche Bedeutung zugeschrieben.
Während sich im Volksschulalter das, was Kinder in der Schule lesen, noch nicht sehr von ihrer Freizeitlektüre unterscheidet, ändert sich das etwa ab dem 10. Lebensjahr entscheidend.
In der Schule beginnt dann jene Phase, die auch als 'Literarische Sozialisation' bezeichnet wird. Den Kindern und Jugendlichen werden Texte angeboten, die konkrete soziale Problemstellungen ansprechen, wie etwa - zeitaktuell - das Verhalten gegenüber Personen, die aus anderen Kulturkreisen stammen, deren Probleme sich zu integrieren, Menschen mit anderer Hautfarbe, Antisemitismus, das Elend in den Entwicklungsländern und seine Ursachen, Umweltschutz und dergleichen mehr. Über diese Texte wird sodann gesprochen und die Schüler werden zu der erwünschten Meinungsbildung geführt. Letztlich wird der Text zum Gegenstand von Referaten, Prüfungen und Schularbeiten gemacht.
Für jeden, der schon beobachtet hat, wie freudlos sich Schüler mit solcher Lektüre abplagen, ist die mit diesem Konzept verbundene Problematik offensichtlich.
Zum einen ist die Bereitschaft zu lesen durch ein ausuferndes Videoangebot ohnehin schon eingeschränkt, aber auch jene Kinder, die hin und wieder ganz gern etwas lesen, haben an diesen Texten, die ja gelesen werden 'müssen' meist keine Freude, finden sie langweilig bis belastend oder sind durch die selbst für junge Leser bisweilen deutlich erkennbare Belehrungstendenz unangenehm berührt. Dazu kommt, dass das Gelesene und die daraus gezogenen Lehren als 'Prüfungsstoff' dienen, was ohnehin keine unbefangene und eigenständige Annährung mehr zuläßt. Letztlich ist zu bedenken, dass Erzählungen, die in realistischer Weise von Unglück und Elend berichten und von Anfang an auf ein für den mitleidenden Leser frustierendes Ende hinsteuern, unabhängig von ihrem literarischen Wert nur einen stark reduzierten Kreis von Freunden unter den jugendlichen Lesern finden werden.
Man kann zwar davon ausgehen, dass die schulische Belehrung zu sozialen und weltanschaunlichen Fragen durchaus Wirkung zeitigt, nur darf man nicht glauben, dass die zur Zeit dazu verwendete Initial - und Begleitlektüre daran einen besonderen Anteil hat.
In ihrer Freizeit konsumieren Kinder und Jugendliche aber ein völlig anderes Medienangebot. Triviale Medienfiktionen - und damit haben wir es in der Masse zu tun - werden in der Regel keinen verhaltensmodifizierenden Einfluß ausüben und zwar unabhängig von ihrem sonstigen Inhalt, einschließlich der 'Gewaltdarstellungen'.
Denn damit eine Geschichte Verhaltensmuster näherbringen kann, die vom jugendlichen Konsumenten als nachahmungswert - und möglich empfunden werden, ist es erforderlich, dass eine gewisse Kompatibilität mit seinem eigenen sozialem Umfeld und der Position, die er selbst darin einnimmt, besteht. Gewaltdarstellungen in Filmen, die in einem für den Betrachter realitätsfernen Umfeld (Der Wilde Westen, der Weltraum, Chinatown usw.) spielen, haben daher keine verhaltensmodifizierende Wirkung. Diese Geschichten werden vom Betrachter vielmehr bewußt in Gegensatz zu seiner eigenen Realität gebracht und üben jene Funktion aus, die man bei Büchern als 'Fluchtlektüre' bezeichnet.
Deshalb werden ja auch die Dramen Shakespears, der deutschen Klassik, das Nibelungenlied oder die Götter und Heldensagen um nur einige Beispiele zu nennen, nicht als jugendgefährdend eingestuft, obwohl es in ihnen an Meuchelmorden, Totschlag, Raub, Verrat, Gemetzel und Straftaten aller Art nur so wimmelt. Die abgehobene Sprache und das realitätsferne Szenarium verhindern eben, dass der jugendliche Leser überhaupt auf die Idee kommt, sich daran ein Beispiel zu nehmen. Das wird von den Anhängern der Nachahmungstheorie auch erkannt, die solche Werke sogar oft als Lesestoff empfehlen, aber in verkürzender Betrachtungsweise übersehen, dass der beschriebene Mechanismus für Medienwerke allgemein gültig ist und nicht nur für solche, die durch ihren literarischen Wert verklärt sind.
Konsequenterweise wird daher gefordert, die Schul- und Freizeitlektüre möglichst einander anzunähern und Lektüre anzubieten, die unter Beibehaltung des pädagischen Konzepts und unter Wahrung eines gewissen literarischen Anspruchs doch soweit Elemente der Trivialliteratur enthält, dass sie vom jugendlichen Publikum gern und vor allem freiwillig angenommen wird. Wichtig ist dabei, dass der Held der Geschichte zwar in Ereignisse verwickelt wird, die oft phantastisch und gefährlich sind, deren glücklicher Ausgang aber vermutet werden kann und dann auch eintritt. Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr Geschichten, deren Ausgang das Kind enttäuscht und traurig macht, das Lesen verleiden können. Die Fähigkeit sich auch mit tragischen Verwicklungen konstruktiv auseinandersetzen zu können, wird erst viel später kommen. Eine klare Positionierung der handelnden Personen in 'gut' und 'böse' erleichtert es dem jugendlichen Leser zudem in parteiergreifender Weise der Handlung und Konfliktdarstellung zu folgen. Mit Zwischenschattierungen, so wie sie im wirklichen Leben vorherrschen, können Jugendliche wohl erst ab einem Alter von 18 Jahren verständig umgehen. Bis dahin behelfen sich vor allem jüngere Kinder mit Hilfskategorien wie etwa 'nicht wirklich böse'. Man denke etwa an den Jäger im Schneewittchen, der zunächst entschlossen ist, das Kind auf Befehl seiner Königin umzubringen, sich aber dann umstimmen läßt.
Viele mehr oder weniger 'gute' Kinder- und Jugendbücher folgen diesem Konzept. Wer aber ein Buch für sein Kind auswählt, sollte sich immer darüber in klaren sein, dass das, was ein Erwachsener für gut, lehrreich und unterhaltsam hält, nicht unbedingt die Zustimmung seines Kindes finden wird. Rezensionen und Empfehlungen sollte man daher auch nur mit Vorsicht genießen. Besser ist es, sich innerhalb vernünftiger aber großzügig gesteckter Grenzen nach dem zu richten, was das Kind selbst lesen möchte, zu beobachten, welche Bücher und Geschichten es mag, sich seine Meinung und Wünsche anzuhören und zu akzeptieren, dass die Geschmäcker auch schon in diesem Alter recht unterschiedlich sein können. Denn wichtig ist, dass das Kind überhaupt Freude am Lesen hat, lesen will und liest. Alles andere wird sich in späteren Jahren finden. Einem Kind, dem hingegen frühzeitig durch aufgezwungene und ungeliebte Lektüre die Freude am Lesen verdorben wurde, wird meist auch in späteren Jahren die Welt des Buches verschlossen bleiben.
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